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Quer Feld Über. Zur Topologie von Kunst



Das Katalogbuch zur Ausstellungsreihe mit Beiträgen von Boris Buden, Celia Guevara, Vinzenz Hediger, Yana Milev, Song Dong, Peter Richter u.a. ist im Verlag für moderne Kunst Nürnberg erschienen (ISBN 978-3-940748-54-6) und zum Preis von 18 € in der Ausstellung bzw. 28 € im Buchhandel erhältlich.

Quer Feld Über - der auf eine alte Version der deutschen Redewendung „querfeldein“ zurückgehende Titel dieses Buches - meint die im Verlauf der darin dokumentierten Kunstwerke und Diskussionen gewachsene Einsicht, dass das Feld zeitgenössischer Kunst kein abgesteckter und definierter Ort ist. Bekanntlich haben Begriffe wie „Raum“ „Ort“ und „Feld“ seit geraumer Zeit in den Kulturwissenschaften Konjunktur, und auch unter bildenden Künstlern gehört es längst zum guten Ton, dass man „auf den Raum einer Ausstellung eingeht“. Dem vorliegenden Buch ist es nicht darum zu tun, derart weit geöffnete Türen einzurennen. Vielmehr geht es um einen empirischen Versuch, die beschworene Topologie von Kunst zu verifi zieren. Die Präposition „zu“, die wir dem Modewort „Topologie“ im Untertitel voranstellen, verweist dabei auf einen Modus der Annäherung und ein Quantum an Distanz zu griffigen Formeln und Diskursen.

Anlass und Materialfundus dieser Publikation ist eine Ausstellungsreihe, die unter dem Titel Trans Aktion -Skulpturen des Übergangs in der Galerie des Kulturzentrums Weltecho und an verschiedenen öffentlichen Orten in Chemnitz stattgefunden hat. Fünf Künstler aus fünf Ländern - Eduardo Molinari/Argentinien, Olaf Nicolai/Deutschland, Yin Xiuzhen/China, Hannes Rickli/Schweiz und Roman Dziadkiewicz/Polen - waren eingeladen, mit Installationen, Aktionen und Interventionen auf den urbanen Raum der sächsischen Industriestadt und die darin eingeschriebene Geschichte zu reagieren. Dabei war ausdrücklich nicht an eine Dekoration städtischer Leerstellen mit Kunstwerken gedacht und gleich gar nicht an eine Verkunstung von Industriebrachen, wie sie in den 1990er Jahren eingeübt worden ist. Vielmehr sollte - lose anknüpfend an Beuys’ erweiterten Kunstbegriff - der Versuch unternommen werden, Kunst selbst zum Medium und Motor einer gesellschaftlichen Befindlichkeit zu machen.

Die Chancen und Grenzen wie auch die konkreten Inhalte und Formen eines solchen Experiments standen uns bei seinem Beginn bestenfalls vage und eher im Sinn einer Beschwörungsformel vor Augen. Es handelte sich gewissermaßen um eine Wette - eine Wette auf die Potentiale des Ortes und der eingeladenen Künstler, d.h. auf eine produktive Situation der Begegnung, der nicht zuletzt der glückliche Zufall in die Hände spielt.

Erst im Verlauf der Konzeption und Realisation der einzelnen Projekte, der damit verbundenen Recherchen und Gespräche, der Präsenz der Künstler und ihrer Aktionen und Interaktionen nahmen die proklamierten Skulpturen des Übergangs tatsächlich Gestalt an. Wenn sich dieser Prozess rückblickend nicht nur als eine Auseinandersetzung mit der spezifischen Örtlichkeit von Chemnitz, sondern auch mit dem fragwürdigen Ort zeitgenössischer Kunst erwiesen hat, ist dies neben allen Beteiligten auch dem genius loci - d.h. einer symptomatischen und symbolischen Qualität des Ausstellungsortes - zu danken, die auch in Peking, Buenos Aires, Krakau oder Zürich nachvollziehbar und aktuell ist.

Betrachtet man die sich verwandelnde Topografie der Stadt Chemnitz auf Ansichten und Karten seit dem 18. Jahrhundert, bekommt man eine Ahnung von der energetischen Dynamik der sich im selben Zeitraum entfaltenden Moderne, aber nicht nur das: Im gleichen Maße und untrennbar davon geraten die „Grenzen des Wachstums“ in den Blick, an die entfesselte Produktivkräfte stoßen. Chemnitz verdankt seinen Aufschwung zum so genannten „Manchester des Kontinents“ der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Die dabei freigesetzte geschichtliche Dynamik hat nicht nur zu komplett neuen Topografien der Stadt geführt, sondern auch dazu, dass diese - mehr als einmal - wieder von der Bildfläche verschwanden. Von der beschaulichen, von Wall und Wassergraben eingeschlossenen, kaum einen Kilometer Durchmesser aufweisenden Stadt des 18. Jahrhunderts ist schon im Jahrhundert darauf so gut wie nichts übriggeblieben. Sieht man sich die nach allen Seiten ausufernde Industriestadt des 19. Jahrhunderts mit ihren unzähligen dampfenden Schloten an, gewinnt man den Eindruck eines an die Stelle der vormaligen Stadt getretenen, gleichsam vulkanischen Fabrikareals. Um 1900 kamen 80% der Weltstrumpfproduktion aus Chemnitz und Umgebung. Mit Maschinenbau, Lokomotivbau und Fahrzeugbau siedelten sich lukrative Nachfolgeindustrien an. Die Einwohnerzahl, die sich 1800 noch auf 10.000 belaufen hatte, überstieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts die 300.000. Seit den 1920er Jahren wurde infrastrukturell für eine künftige Millionenstadt mit Ringstraßen und Untergrundbahn geplant. Die damals gebauten Kaufhäuser, aber auch die kulturelle Infrastruktur mit Kunstsammlungen, Opernhaus, Theater und Museen bezeugen bis heute das Selbstverständnis einer werdenden Metropole.

Ob sich die Chemnitzer Metropolis-Vision unter anderen Umständen erfüllt hätte, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass die Dynamik des Industriezeitalters in Gestalt der alliierten Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs auf die Stadt zurückfiel. Als kriegsentscheidendes Zielobjekt eingestuft, teilte die moderne Metropole das Schicksal der im Jahrhundert zuvor verschwundenen Kleinstadt: 95 % der Chemnitzer Innenstadt und zwei Drittel des gesamten Stadtgebiets wurden am 5. März 1945 komplett zerstört. Die Physiognomie der Stadt gibt den Einwohnern und Besuchern diese Auslöschung bis auf den heutigen Tag zu spüren. Das seit den 1950er Jahren betriebene sozialistische Aufbauprojekt mit dem Namen „Karl-Marx-Stadt“ betont mit seinen Blockbauten, Freiflächen und Magistralen eher den vorangegangenen Super-GAU als ihn zu kaschieren. Immerhin regenerierte in den folgenden vierzig Jahren noch einmal der Industriestandort: Etwa ein Fünftel des Bruttosozialprodukts der ehemaligen DDR wurde in Karl-Marx-Stadt und seiner Umgebung erwirtschaftet. Nach dem Kollaps des sozialistischen Experiments war es dann jedoch auch der auf den Ruinen von Chemnitz errichteten „Karl-Marx-Stadt“ bestimmt, mit dem Großteil ihrer Industriebetriebe und deren Beschäftigten zu verschwinden. Geblieben ist davon der monumentale Karl-Marx-Kopf des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel im Stadtzentrum und eine von historischer Spannung knisternde Leere, der die neuerbauten Shopping Malls und Parkhäuser ebenso wenig Abhilfe schaffen wie das Bemühen, die vorübergezogene Geschichte in Gestalt einer touristisch relevanten „Stadt der Moderne“ zu musealisieren.

Der bemerkenswerteste, weil auf die Gegenwart verweisende Aspekt dieser erklärten „Stadt der Moderne“ besteht in der impliziten Voraussetzung, dass die Moderne unwiderruflich vorbei ist. Konsequent weitergedacht, kennzeichnet eine solche Perspektive das gegenwärtige Chemnitz als quasi utopische Stadt - als eine Stadt im Jenseits der Geschichte, deren Raum und Zeit nurmehr in Gestalt musealer Gegenstände existieren. Allerdings ist dem Bestreben, eine Chemnitzer Identität derart aus dem historischen Jenseits zu rekonstruieren, ein prinzipieller Irrtum eingeschrieben: Denn mehr als jedes Industriemuseum oder jede hochkarätige Sammlung von Werken der „klassischen Moderne“ ist es die in den Straßen der Stadt zurückgebliebene Leere, die der vergangenen Modernität ihr Monument setzt. Es ist präzise das darin sichtbare Verschwinden, das die kinetischen Energien des Industriezeitalters zur Schau stellt. Und mehr noch: In dieser zurückbleibenden Leere verschwindet nicht nur die Stadt mit ihrer „Moderne“, sie verschluckt auch jede danach mögliche Gegenwart. Wo die Chemnitzer Marketingstrategen eine „Stadt der Moderne“ beschwören, um sich das beunruhigende Geständnis zu ersparen, dass diese nicht mehr existent - oder gar eine nachträgliche Fiktion - ist, wirkt die urbane Realität wie ein grandioser Spiegel: Sie spiegelt das globale Dorf, in dem die Reden über Moderni tät und Postmodernität kursieren. Diese andere, leere Seite der Stadt zeigt sich als das majestätischste ihrer Museen - ein Museum der Gegenwart, dessen einziges Exponat der abwesende Mensch ist.

Wenn sich aber das Museum als elysisches Gefilde erweist, um das Drama des Menschen zu guter Letzt darin abzustellen und sich von ihm zu läutern, heißt dies nicht im Umkehrschluss, dass das verwaiste Schlachtfeld der Geschichte der einzige übrige Ort einer zeitgenössischen Kunst ist? Die Ausstellungs reihe Trans Aktion -Skulpturen des Übergangs war als Versuch konzipiert, den Leerstand am Ausgang der Moderne als Ressource und Herausforderung aufzufassen. Die Künstler aus Argentinien, China, Deutschland, Polen und der Schweiz, die wir dazu nach Chemnitz eingeladen haben, waren mit Blick auf ihre Sensibilität für soziale, mediale und lokale Kontexte ihrer Arbeit gewählt. Wir sind ihnen dankbar, dass sie die Einladung nicht nur an-, sondern ausnahmslos ernst genommen haben. Trotz zahlreicher Verpflichtungen - darunter zu repräsentativen internationalen Ausstellungsprojekten und Biennalen - richteten sie es ein, mehrfach bzw. für Wochen und Monate nach Chemnitz zu kommen, um ihre Projekte aus der unmittelbaren Erfahrung der Stadt zu generieren. Wie nicht anders zu erwarten, sind sie in sehr verschiedener Weise mit dieser Herausforderung umgegangen. Dennoch zeigt sich eine Vielzahl von Parallelen und Schnittpunkten ihrer Sichtweisen, künstlerischen Zugänge und Methoden - und es ist nicht zuletzt die generelle Frage nach den Bedingungen einer aus dem modernen Paradiesgarten vertriebenen Kunst, in der ihre Installationen und Aktionen konvergieren. Schlagworte wie Arbeit, Archiv, Erinnerung, Subjektivität, Kollektivität, Multiplizität, Transformation und Utopie liefern nur einige - in ihrer Allgemeinheit ungenaue - Stichpunkte, um die sich die Kunstwerkeund Debatten, die dieses Buch widerspiegelt, ranken. Sie sind jedoch beredt genug, um zu dokumentieren, dass Kunst im 21. Jahrhundert kein geschlossenes System, sondern ein widersprüchliches, mit vielfältigen gesellschaftlichen Kontexten verschachteltes Feld ist. Die Unterscheidung, auf welcher Seite davon der eigentliche Ort der Kunst liegt, ist offenbar so unmöglich wie bei der klassischsten aller topologischen Figuren - dem „Moebiusband“ - zu treffen.

Wenn die Wirklichkeit selbst am Verschwinden und ihre herkömmliche Topografie mithin obsolet ist, ist Kunst darauf angewiesen, ihren Raum - mit Heidegger gesprochen - zuallererst zu räumen. Wir haben versucht, der Einsicht in dieses dynamische und transitorische Moment des künstlerischen Feldes bei der Redaktion dieses Bandes Rechnung zu tragen: Dem Prozesscharakter der Kunstwerke entsprechend, handelt es sich auch bei den dazu versammelten Texten gleichsam um Momentaufnahmen - Protokolle von Gesprächen mit Kultur- und Medienwissenschaftlern und anderen Experten, in deren Großteil die Künstler selbst ein bezogen waren.

Eröffnet wird der Band durch ein Interview mit der Medienkünstlerin und Raumforscherin Yana Milev, der wir die programmatische Formel einer Skulptur des Übergangs verdanken. Der abschließende, unter dem Titel „Industrie - Utopie“ stehende Beitrag der argentinischen Urbanistin Celia Guevara und des Videokünstlers Ricardo Pons kommt - gleichsam aus der Perspektive der anderen Weltseite - auf den postindustriellen Raum zurück, den wir am Beispiel von Chemnitz als Experimentierfeld dieses Projektes bestimmten. Er verweist auf ein als Abschluss der Ausstellungsreihe geplantes Symposion zum Thema Utopolis - Wunschfabrik Stadt, dessen Publikation als Ergänzungsband dieses Buches geplant ist.

Die nachdrücklichste, weil im Voraus unkalkulierbare Erfahrung dieses Projekts besteht darin, dass Kunst auch im 21. Jahrhundert vermag, Menschen zur Teilnahme daran zu aktivieren. Yin Xiuzhens textile Skulptur Commune, deren Material von ungezählten Einwohnern der Stadt Chemnitz gespendet und unter Beteiligung von mehr als zwanzig Helfern - vorwiegend ehemaligen Chemnitzer Textilarbeiterinnen - in wochenlanger Arbeit vernäht worden ist, war als Probe auf ein solches Exempel gedacht. Was kaum einer von uns zu glauben gewagt hatte: Die Idee ging auf - es funktionierte! Auch die übrigen Kunstwerke, die in diesem Buch dokumentiert sind, wären ohne eine Vielzahl freiwilliger Mitwirkender unmöglich zu realisieren gewesen. Insofern täuschen die wenigen, auf der Titelseite genannten Namen über die tatsächliche Zahl der Beteiligen hinweg. Die oben getroffene Feststellung, dass der Mensch dabei ist, aus dem postmodernen Raum zu verschwinden, muss in diesem Punkt relativiert werden: Kunst kann nicht nur Räume eröffnen, sondern - auch heute - Menschen bewegen, in diesen zu agieren. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Volkmar Billig, Chemnitz, im Mai 2008
Kontakt Informationen Katalog/Catalogue
2008 TransAktion - Skulpturen des ÜbergangsEine Ausstellungsreihe im Weltecho Chemnitz 2008Eduardo Molinari - Auf den Spuren der Mais-Männer05.01.2008 - 10.02.2008Olaf Nicolai - Yeux de Paon16.02.2008 - 23.03.2008Yin Xiuzhen - COMMUNE29.03.2008 - 04.05.2008Hannes Rickli - Aggregat Chemnitz10.05.2008 - 15.06.2008Roman Dziadkiewicz - Museum der Transformation21.06.2008 - 27.07.2008Utopolis – Wunschfabrik Stadt - Internationales Symposion in Chemnitz20.06.2008 - 22.06.2008Weltecho - Galerie
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